Gullyaks Bericht

Die erste Nacht

Die erste Nacht

Es war nasskalt in jenem quadratischen Raum, welcher von nun an sein Zuhause sein sollte und Gullyak raffte den Fetzen Wolle um sich, um den Tod wenigstens eine weitere Nacht davon zu kommen. In der düsteren Zelle, die nur vom schwachen Schein einer Straßenlaterne oberhalb seines Fensters erhellt wurde, konnte er seinen Atem kondensieren sehen. „Verflucht noch eins, ist es kalt", raunte er mit klappernden Zähnen an niemanden speziellen - immerhin konnte ihn niemand hören.
Er war in dieser Zelle um vergessen zu werden und zumindest die Wachen kamen dieser Pflicht besonders bereitwillig nach. Sicherlich hatte sich gegen Mittag die Klappe in seiner Tür geöffnet und es war etwas Brot hindurch gekommen, doch hatte man weder ein Wort mit ihm gesprochen, noch überprüft ob er überhaupt noch lebte. Gullyak war an diesem bitterlichen Ort den Kräften der Natur nahezu schutzlos ausgesetzt - jenes Deckchen half genauso wenig gegen den einsetzenden Frost, wie das Stroh auf dem er lag. Sein gesamter Körper zitterte im Versuch nicht der Erfrierung anheimzufallen und er selbst redete sich konstant Mut zu: „Du hast schon schlimmeres überstanden, lass mich jetzt nicht im Stich." Alles war jedoch vergebens, denn die Kälte kroch einer Seuche gleich auf leisen Sohlen in seine Knochen und würde ihn vermutlich noch in dieser Nacht hinterrücks ermorden.
Möglicherweise war es besser so, wenn man bedachte, was er angerichtet hatte. Er vergrub den Kopf weiter unter dem Stück Stoff, dass man ihm gegeben hatte und spürte, wie sich einzelne, heiße Tränen in seinen Augen formten. Es war das Ende und Gullyak war sich dieses Umstandes sehr bewusst. Nach einem anfänglichen, einsamen Schluchzer folgte ein zweiter, während die [vereinzelten] Tränen immer mehr wurden. Aus ihnen wurden zwar keine Bäche, wie in den Geschichten, die seine Mutter ihm in Kindertagen erzählt hatte, sondern eine für seinen Tod angemessene Menge.
Plötzlich hörte er ein Klicken und wandte sich, soweit es sein bereits jetzt geschundener, vor Schmerz ächzender Körper zuließ um. Offensichtlich musste er bereits gestorben sein, denn anders lies sich die Lichtgestalt, welche er vor sich sah nicht erklären.
In Mitten seiner Zellen stand eine junge Frau mit purpurnen Augen, die ein violettes Stoffgewand trug, dass an den Schultern mit Federn geschmückt war. Ihre pechschwarzen Haare hatte sie zu einem - für diese Gegend unüblichen - praktischen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden. Der Anblick den sie bot war atemberaubend, doch Gullyaks Aufmerksamkeit blieb allerdings noch viel mehr an jener gerafften Wolldecke kleben, die ihren linken Arm verdeckte.
Sanft lächelnd schritt die auf den Mann zu, der sie gleichsam entsetzt und euphorisch anstarrte. „Bist du der Tod?", wollte er mit klappernden Zähnen wissen, doch die Gestalt schüttelte lediglich das hübsche Gesicht leicht, ehe sie sich über ihn beugte. Mit der Zärtlichkeit einer Mutter deckte sie den Verbrecher zu und augenblicklich wurde ihm warm, als sei es Magie, die dieses Stück Stoff belebte. Was machte er sich vor? Es musste natürlich Magie sein, denn auch wenn er sie nicht erkannte, war dies sicherlich eine Göttin jenes vergessenen Pantheons von dem er schon so viel gehört hatte. Noch immer zitternd bedankte er sich, doch verband er dies direkt mit einer Frage: „Warum hilfst du mir nach alles was ich getan habe?"
Sie trat einen Schritt zurück und lächelte weiterhin selig, was Gullyak zwar jetzt schon ärgerte, doch wollte er seiner Wohltäterin nicht auf die Füße treten.
„Weil ich es kann. Ich habe deine Verbrechen durchaus gesehen und du wirst hier dafür büßen, dass bist du der Welt schuldig, doch im gleichen Maß sah ich zu, was du außerdem fähig bist. Ich wagte zu vermuten, dass dich die Welt noch braucht."
„Ist das alles? Ich bin dir nützlich."
„Ein wenig salopp formuliert könnte man es so ausdrücken, ja."
„Was soll ich tun? Was ist mein Auftrag? Deine Nächstenliebe ist sicherlich nicht kostenlos."
„Nichts, Gullyak, aber du wirst irgendwann, wenn du meinen Besuch bereits lange vergessen hast, das Richtige tun und darauf zähle ich."
„Was wenn ich es nicht tue?"
Es war eine wichtige Frage, denn wer Verträge mit Wesen einging, die einem magische Decken gaben, sollte wissen wie die Konditionen der Vereinbarung bis ins kleinste lauteten. „Dann wirst du mich enttäuscht haben. Ich glaube allerdings nicht, dass es so kommen wird", antwortete sie sowohl mit einem Schulterzucken, als auch einem frechen Grinsen, dass er ihr nicht zugetraut hätte, auf die Frage. Da er mittlerweile wieder seine Finger und die Zehen spüren konnte, setzte sich der Mann mit einem tiefen Seufzen der Erleichterung auf. Ohne dabei Arm oder Hand der Kälte auszusetzen, wischte er sich die Reste der Tränen aus den Augen.
"Ich werde mit Spannung deine Geschichte verfolgen, Gullyak..."
Mit diesen Worten verschwand die Gestalt und der Mann war wieder vollkommen allein.