Träume von elektronischen Träumen
Prolog
Der schwarze Wolf
Der schwarze Wolf
Sophia bildete eine Kuhle mit ihren beiden Händen unter dem Wasserhahn, um sich das darin sammelnde Wasser auf ihr Gesicht zu spritzen. Seit einem Standard Kernjahr war sie nun schon hier gestrandet und es war keine Rettung in Sicht. Diese Müllhalde von einer Raumstation war so selten ein Anlaufpunkt für Schiffe, dass sich noch keine Möglichkeit geboten hatte von hier wegzukommen. Die Frau beobachtete, im verblassten Spiegel der Toilette der Spelunke in den sie ihren knappen Sold trug, wie die Wassertropfen von ihrem zierlichen Gesicht herunterliefen. Seufzend strich sie sich eine Strähne ihres orange-roten Haares aus dem Antlitz, die sie an ihrer sommersprossigen Stubsnase gekitzelt hatte, und legte sie hinter ihr rechtes Ohr.
Für einen Moment fixierte Sophia mit ihren mandelförmigen, smaragdgrünen Augen den Silberanhänger, der einen Stern darstellte, welcher um ihren Hals hing, im tristen Neonlicht. Sie umfasste mit der rechten schwieligen Hand das Amulette, das ihr ihre Schwester, Theo, vor ihrer Abreise an Bord der Albatros, geschenkt hatte.
Was hab ich mir nur dabei gedacht? Ich wollte Abenteuer und nicht für einen Hungerlohn in dieser Einzimmerabsteige pennen. Warum ist alles nur so viel schwerer? Was bringt mir mein Studium, wenn man mich keiner mitnimmt, der einen ÜLA hat? In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zur Damentoilette, so dass der bisher gedämpfte Lärm der Kneipe nun in voller Lautstärke hineindrang. Sophia schreckte leicht zusammen, als hinter ihr eine muntere Frauenstimme aus all dem Gequatsche und der Jazzmusik hervorstach: „Holt doch schon mal was zu trinken. Ich muss mir nur mal schnell die Hände waschen.“ Sie stützte sich wieder auf das rostige Stahlwaschbecken, als eine quirlige, junge Frau an das Becken neben ihr hüpfte und das Wasser aufdrehte. Ohne darauf zu achten, ob Sophia ihr zuhörte, quasselte die kleingewachsene Frau, die sie nur aus dem Augenwinkel sah, auf sie ein: „Na, was hat dich auf die Station verschlagen?“ Dabei begann sie sich die Hände zu waschen, während sie weiterredete, ohne der Ingenieurin eine Chance zum Antworten zu geben. „ Wir sind hier, weil Kev meinte, an eine der Starkstrom-Leitungen zu greifen. Hat‘s nicht überlebt, aber…“, sie unterbrach sich selbst und hielt für einen sehr kurzen Augenblick inne, bevor sie weitersprach: „Vielleicht war das gerade geschmacklos, -tut mir Leid- aber er war nicht besonders nett. Der hat mich immer Kleine genannt, der Vollidiot.“
Erschöpft ächzend wischte sich Sophia mit dem Ärmel ihrer ausgewaschenen Universitäts-Kapuzenjacke das Wasser aus dem Gesicht, bevor die Ingenieurin ihr die müden Augen zuwandte. Der nicht-synthetische Baumwollstoff fühlte sich weich auf ihrer Haut, als sie die junge Frau betrachtete, ohne wirklich auf ihr Aussehen zu achten. Dabei setzte sie ihren am meisten genervten Blick auf, den sie beherrschte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt: Eine aufgedrehte Jungraumfahrerin, die vermutlich noch genauso grün hinter den Ohren war, wie Sophia selbst. Von alledem merkte die Blondine, mit der auffälligen violetten Strähne, scheinbar nichts und redete schulterzuckend weiter: „Naja, jetzt fliegen wir erstmal ohne einen Antriebsingenieur weiter, aber das…“ Erneut unterbrach sich die Blondine, den erst jetzt schien ihr Sophias Gesichtsausdruck aufzufallen. Sie musterte ihr Gegenüber lächelnd, als sie meinte: „Ich nerve dich, oder? -Ach, nicht schon wieder.“ Sie schlug sich selbst vor den Kopf, während sie sich bei Sophia entschuldigte. Diese winkte ab, denn sie hatte nur beiläufig zugehört und konnte sich schon kaum noch daran erinnern, was die junge Frau gesagt hatte. „Du siehst aber gar nicht gut aus. Was hälst du davon, wenn ich dir was für die geraubten Nerven ausgebe? Ich bin Elaria, aber du kannst mich Ela nennen“, sagte die junge Frau, mit einem aufdringlich fröhlichen Grinsen auf den Lippen.
Sophia taxierte ihr Gegenüber missmutig, von oben bis unten. Funkelnde stahlblaue Augen glänzten die Ingenieurin aus einem rundlichen Gesicht an, dass von einem spitzen Kinn und den blonden Haaren abgeschlossen wurde. Ihre schmächtige Statur, ebenso wie die erstaunlich kräftigen Arme, wurden von einem bedruckten Oberteil bedeckt. Die Augen der Ingenieurin blieben für einen Moment am an jenem Stoff hängen, der den verschnörkelten Schriftzug: Seren’Sana, eine gezeichnete Landkarte und den Satz: Aus Blut geboren und mit Blut zum Sieg verschworen zeigte. Was ist Seren’Sana? Vielleicht ist das eine dieser neuen Musikgruppen, die überall wie Pilze aus dem Boden sprießen? Egal… Die junge Frau hatte sich eine himmelblaue Kapuzenjacke über ihrer grauen Jeanshose um die Hüfte gebunden.
Als sie Sophia dann noch aufmunternd auf ihre Schulter klopfte, gab sie sich geschlagen. Ihr Lohn war ohnehin mal wieder überfällig und sie würde sich keine weiteren Getränke leisten können. Deswegen stimmte sie schulterzuckend zu und folgte Elaria in den vollbesetzten Schankraum der Kneipe. Flimmerndes Neonlicht, das kurz vor dem Verlöschen stand, sich aber wacker hielt, erleuchtete den Hauptraum. Ungefähr zwanzig Tische mit viermal so viele Stühle boten den durstigen Kunden neben zwei Ecknischen und einer langgezogenen Theke mit zehn Hockern genug Platz zum Zechen. Wie immer am Ende der Woche waren so ziemlich alle Tische mit schwatzender Kundschaft belegt, so dass man das eigene Wort nur schwer verstehen konnte, was natürlich im Laufe des Abends nur dazu führte, dass sich alle letzten Endes nur noch anschrien. Sie kannte so etwas schon aus dem vergangenen Jahr. Die blonde Frau, deren Gesicht konstant ein anstrengend frohes Grinsen zur Schau stellte, führte Sophia zwischen den anderen Maschinisten, Besitzern von Geschäften und Dienstleistern der Station, die sie in den letzten Monaten zu hassen gelernt hatte, hindurch zu einer der beiden Ecknischen.
Auf den mit billigem roten synthetischen Lederbezügen ausgestatteten Plätzen der Ecknische, hockte eine Gruppe, die nicht unterschiedlicher sein konnte. Es handelte sich ohne Zweifel, um eine Raumschiffmannschaft, denn diese waren für gewöhnlich ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Am rechten Ende schmiegte sich ein kleiner, untersetzter Kerl, mit rotbraunen Haaren, an eine hochgewachsene Frau in einem Laborkittel, die einen strengen Eindruck, machte. Es folgte ein draufgängerisch wirkender, schlaksiger Mann, der sie Beine überkreuz auf den Tisch gelegt hatte und zuletzt saß ganz links, eine anmutige Frau, welche an einem blechernen Bierkrug nippte, bevor sie Sophia zwinkernd einen doppeldeutigen Blick schenkte.
Sie trug am Leib ein Kleid in scharlachroter Farbe mit langen wallenden Ärmeln, die in schwarzen Säumen endeten, welches ihrem muskulösen Körper schmeichelte. Inmitten des schmalen, karamellfarbenen Gesichtes leuchteten zwei Rehaugen, die von offenem schwarzem Haar und hohen Wangenknochen gerahmt wurden. Um den dünnen Hals hing an einer silbernen Kette ein Anhänger aus dem gleichen Material. Die Ingenieurin konnte nicht wegsehen, ganz so als würde der Anblick dieser attraktiven Frau sie dazu zwingen sie anzustarren. Es dauerte einige Sekunden, bis Sophia durch die Stimme der besagten Dame aus ihren Träumereien herausgeholt wurde: „Glaubst ich verschwinde, wenn du wegsiehst?“ Sie war nicht in der Lage etwas zu antworten, weswegen ihr Gegenüber nachlegte: „Hat es dir die Sprache verschlagen? Kann ich verstehen, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, denn für eine Schönheit, wie dich bleibe ich gerne.“
Die Blondine, deren Namen Sophia schon wieder, zu ihrer Schande, vergessen hatte, winkte sie unbeirrt an sich vorbei neben die Frau in dem roten Kleid, bevor sie sich rechts neben der Ingenieurin hinsetzte. Aufgeregt brabbelte sie wieder drauf los, wobei sie auf die einzelnen Personen zeigte, die sie vorstellte und nahm Sophia damit die Aufgabe ab eine Antwort zu finden: „Das ist Ben und seine Ehefrau Dr. Med. Winter, die nur er mit ihrem Vornamen ansprechen darf, der da auf draufgängerisch tut, ist Erik, dann Elfie, die hast du ja grade schon kennengelernt, und ich bin wie bereits erwähnt: Elaria.“ Bei der Erwähnung, der Doktorin verdrehte Elaria genervt die Augen und anschließend wandte sie sich zur verwunderten Sophia „Ich hab dich gar nicht nach deinem Namen gefragt“, kommentierte die Frau sich selbst, was die Ingenieurin, obwohl ihr nicht danach war, zum Grinsen brachte.
Die Frau im roten Kleid stellte ihren Krug ab, ehe sie sich an Elaria wandte: „Jetzt lass die Gute, doch erst einmal Luft holen, Ela.“ Sie schob Sophia den halbvollen Bierkrug zu, den diese dankend annahm. Wieder einmal lies sie ihr vermaledeites Namensgedächtnis im Stich, denn nur allzu gerne hätte sie sich an den Namen der Frau erinnert. „Danke … ich heiße Sophia, Sophia Emilia Schreiber.“ So ziemlich alle am Tisch prosteten ihr zu. Sophia nippte am Bier, das außerordentlich herb und gleichzeitig wässrig schmeckte – wie auch immer das möglich war. Angewidert entgleisten ihre Gesichtszüge, weil es ihr nicht gelang sie unter Kontrolle zu halten. Lachend klopfte die hübsche Frau zu ihrer linken, Sophia auf die Schulter, während sie anmerkte: „Schmeckt nach Spülwasser, nicht wahr? Aber zumindest erfühlt es seinen Zweck. Wenigstens hoffe ich das man davon zumindest etwas blau wird.“ Jene Frau im Laborkittel wandte sich in diesem Augenblick an die Ingenieurin: „Was treibt jemand der in Thelmon studiert hat, auf so einer Bruchbude von Raumstation, wenn Sie die Frage erlauben?“ Schmunzelnd sah die Ingenieurin an sich herunter auf das Logo der Universität von Thelmon, dass ihre Kapuzenjacke zierte. „Bin hier vor einem Jahr gestrandet. Ich war“, sie unterbrach sich selbst, um nicht zu viel von sich preiszugeben, immerhin kannte sie diese Leute nicht, „auf einem Frachter und hab mich mit einem Offizier zerstritten. Deswegen haben sie mich hier zurückgelassen.“
An diesem Punkt schaltete sich die Frau in Rot ins Gespräch ein: „Welche Position hast du denn auf dem Frachter ausgefüllt?“ Kurz überlegte Sophia über einen weiteren Schluck des grässlichen Bieres hinweg, ob sie das erzählen wollte, doch kam sie zum Schluss, dass es nicht schaden könne: „Ich war die leitende ÜLA-Ingenieurin, hab schließlich Thermodynamische Antriebssysteme studiert und das mit Bestnoten.“ Sie setzte ein gewinnendes Lächeln auf, den warum nicht wenigstens ein wenig mit ihren akademischen Leistungen angeben, die hier draußen in den Randssystemen nichts wert waren. Stolz zeigte sie übertrieben beiläufig aus das Logo der Universität. Elaria quickte bei ihren Worten aufgeregt, doch gebot die Frau in Rot ihr mit einer Handgeste zu schweigen und sagte: „Hm, du kommst wie gerufen. Unser Käpt’n braucht jemanden für die Antriebe. Der ÜLA liegt ziemlich brach und keiner von uns ist scharf darauf mit dem Standartantrieb bis ins Rangariy-Gebiet zu fliegen. Was hälst du davon von dieser Station runterzukommen?“
Sophias Herz setzte vor Freude für einen Schlag aus, wobei sie glatt ihr Reiseziel überhörte. Jauchzend hielt sich die Ingenieurin die Hände vor den Mund. „Das habe ich mir fast gedacht. Du musst nur noch den Schwarzen Wolf überzeugen. Unser Käpt’n, Arthur Liamson, sitzt dahinten.“, kommentierte die Offizierin grinsend, bevor sie eine der Bedienungen zu sich rief. Währenddessen quickte die blonde Elaria wieder los, was in einem gekicherten Satz endete: „Arthur nimmt dich bestimmt mit. Das wäre großartig!“ Nickend lächelte Sophia, wobei sie diese ganze Situation immens irritierte, aber sie hatte in den vergangenen Monaten gelernt, dass man solche Gelegenheiten nicht weiter hinterfragen sollte.
Man darf das Schicksal nicht herausfordern, wenn es einem Chancen bietet. Ihr Blick wanderte zu jenem Mann, auf den die Offizierin zeigte. Dort am anderen Ende der Kneipe hockte ein ungefähr einundvierzig Jahre alter Mann mit breiten Schultern und heller wettergegerbter Haut, der irgendetwas auf elektronisches Papier schrieb. Sophia nahm einen letzten Schluck des wässrigen Bieres, bevor Elaria sie jauchzend rausließ und sie schließlich auf den Kapitän des Raumschiffes zuging. Dabei wiederholte sie immer wieder seinen Namen in Gedanken, um ihn nicht zu vergessen.
Der Mann bemerkte sie nicht, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte. Zu sehr war er scheinbar mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt. Zunächst betrachtete sie ihn genauer, während der Kapitän: ÜLA, als Abkürzung für Überlichtantriebe, eintrug. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, wie er als nächstes: Synthese, für den Prozess zur Erstellung neuer Stoffe, schrieb. Sein kantiges Gesicht mit den harten Zügen wurde in Teilen von einem grau melierten Vollbart bedeckt. Am Körper trug er einen knielangen abgewetzten Stoffmantel in schwarz an dessen Revers ein verblichenes Abzeichen hing. Darunter konnte sie eine einfache Militäruniform sehen. Seine Hände steckten in fingerlosen, grauen Handschuhen und auf dem Tisch lag neben einem dampfenden Metallbecher ein Hut.
Irgendwann atmete sie tief ein, um ihren Puls in den Griff zu bekommen und räusperte sich. Ohne aufzusehen, sagte der Kapitän: „23 horizontal… Unentbehrliches Bauteil eines ÜLA.“ Verwirrt über die Worte des Mannes überlegte sie für eine Sekunde, bevor sie wie aus der Pistole geschossen antwortete: „Thermohydraulikkupplung…“ Zustimmend brummte der Mann, als er das Wort eintrug. Danach legte er den Stift zur Seite und griff nach dem dampfenden Becher.
„Nun, Fräulein Schreiber, sie wünschen auf der Tiefenbrecher anzuheuern?“, wollte er von ihr wissen, was dazu führte, dass Sophia ihn erstaunt musternd fragte: „Woher wissen sie das?“ Über Sein Gesicht huschte ein sachtes Lächeln, dass genauso schnell von seinen stoischen Zügen wieder vertrieben wurde, wie es aufgetaucht war. Mit ernster Stimme erwiderte der Mann: „Meine zweite Offizierin hat mir gerade eine Nachricht darüber geschickt, während ich mit diesem Rätsel beschäftigt war. Ich gehe davon aus, dass Sie die vakante Stelle der Antriebsmaschinistin auf meinem Schiff ausfüllen möchten?“ Er trank nachdenklich aus seinem Becher, bevor er sich mit dem Ärmel über seinen Mund fuhr.
„So ist es, Kapitän Liamson, ich bin eine hervorragende Antriebsingenieurin, die mit Bestnoten von der Universität in Thelmon auf Tolvin-Drei abgegangen ist. Sie könnten im Umkreis von zwei Parallaxsekunden niemand besseres als mich finden. Ich habe an allen bekannten Antriebssystemen gearbeitet und sogar schon an Rangariy-Technik geschraubt. Ich bin erfahren im Umgang mit den Werkzeugen und Anlagen meiner Zunft.
Außerdem brauche ich weder viel Platz noch Luxus. Ein Bett zum Schlafen ist vollkommen ausreichend für mich. Kaum jemand kommt nicht mit mir zurecht und wenn mich jemand nicht leiden kann, dann behandele ich ihn professionell. Bei allem Respekt … es wäre … ein großer Fehler mich nicht mitzunehmen“, sie ratterte gebetsmühlenartig den Vortrag herunter, den sie seit zwei Monaten jeden Abend vor dem Schlafengehen fanatisch eingeübt hatte. Der Kapitän der Tiefenbrecher brummte, nickte und sagte die magischen Worte: „Ich zahle eintausendfünfhundert Kreal im Monat plus die Verpflegung. Wir fliegen morgen Abend ab. Ich hoffe Sie dann zu sehen, Fräulein.“ Mit den letzten Worten reichte er Sophia die Hand, welche sie Freudestrahlend ergriff. Aus dem Augenwinkel konnte sie noch sehen, wie er sich wieder seinem Kreuzworträtsel widmete, als sie zu den anderen Mitgliedern ihrer Mannschaft zurück ging.