Das Erbe der Vahnen
Prolog
Die Herrin der Hochsee

Tiana betrachtete sehnsüchtig das kleine Fenster ihres Zimmers. Man konnte vom Anwesen, das auf einem Hügel errichtet worden war, auf das schäumende Meer hinabsehen. Manchmal wünschte sich die Tochter der Admiralin, einfach eines der Schiffe ihrer Mutter zu nehmen und in See zu stechen. Es gab zwar nur wenige Regeln, die das Mädchen beachten musste, doch waren diese wenigen besonders grausam. Zumindest empfand Tiana es so.

Mit den Armen stütze sie sich seufzend auf dem Fensterbrett ab. Selbst, wenn das Mädchen das Rauschen der Wellen in diesem Augenblick nicht hören konnte, stellte sie es sich vor. Der Gesang der Wogen, war ihr liebstes Geräusch, denn irgendetwas am Klang des Meeres beruhigte sie. Was genau, konnte sie allerdings nicht sagen. Es waren nicht nur die Wellen, die ihr gefielen. Das Meer an sich besaß eine fast schon magische Anziehungskraft. Eines Sonnenaufgangs werde ich mit Sunja und den anderen auf dem Meer segeln, dachte sie bei sich, alle bekannten Länder will ich sehen und neue entdecken. Ja, eine Entdeckerin wollte sie sein.

Bei dieser Überlegung blieben Tianas Gedanken an Sunja hängen. Die erwachsene Frau war ihre beste Freundin unter den Seeleuten, schließlich gab es auf den Inseln ihrer Mutter nur wenige Kinder. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Haut war die Haut der Frau dunkel. Früher als kleines Kind hatte sie das gewundert, doch dann erzählte die Seefahrerin ihr den Grund für ihre andere Hautfarbe.

In der ganz frühen Zeit der Menschheit habe der Gott des Feuers, Ritor, bei der Erschaffung aller Leute seine Erstgeborenen so sehr geliebt, dass er sie stets umarmen musste. Dadurch wurde aber ihre Haut immer dunkler.

Natürlich wusste sie, dass diese Geschichte Unsinn war. Schließlich war sie schon zwölf Winter alt und mit zwölf Wintern weiß man viel über die Welt. Der alte Kalvin erklärte ihr, dass die dunklere Haut der Offizierin vom Schein der Sonne käme. Sie sei ein Schutz gegen die erbarmungslose Hitze auf hoher See. Nur die besonders erfahrenen Seeleute wüssten das und immerhin war sie schon oft mit ihrer Mutter zum Segeln in die Bucht hinausgefahren. Also gehörte sie wohl zu den erfahrenen Seeleuten.

Eigentlich war ihr die Haut der Frau egal. Es machte so oder so keinen Unterschied, denn Sunja war eines der nettesten Mitglieder in der Mannschaft ihrer Mutter. Immer brachte sie ihr etwas Süßes aus den fernen Provinzen mit und dabei war in den schmalen blauen Augen der Frau stets wahre Freude zu sehen. Auch war sich die Seefahrerin nicht zu schade, noch mit ihr zu spielen. Viele der alten Seebären knurrten nur mürrisch, wenn Tiana sie bat, mit ihr zu spielen. Würde sie eine kleine Runde Fangen umbringen? Zwar wusste sie keine Antwort auf die Frage des Fangenspielens, aber Kalvin wusste sicher eine. Beim erneuten Gedanken an den Koch des Flaggschiffes ihrer Mutter erinnerte sich das Mädchen an den Grund, aus dem sie das Meer durch ihr Fenster beobachtete. Sie hielt Ausschau nach eben diesem Schiff.

Am Morgen hatte sie versucht, mit Marik zu spielen, um sich die Zeit zu vertreiben. Leider Begriff der sechzehn Winter alte Junge das Prinzip des Spielens nur sehr schwer. Immer wieder hatte sie versucht, ihm die Regeln zu erklären. So schwer konnte es doch nicht sein, wenn sogar sie es verstand. Es war scheinbar unmöglich dem Kerl ein Spiel beizubringen. Allerdings bemühte sich der blonde Junge, ihren Ansprüchen gerecht zu werden, was Tiana ihm zugutehielt. Den gesamten Mittag hatte sie dagegen damit verbracht, auf die Wellen zu gucken, doch nichts war zu sehen. Alles in allem war dieser Sonnenaufgang wenig interessant gewesen.

Ernüchtert ließ sie die Schulter hängen, als weiterhin nichts passierte. Eigentlich sollte die Herrin der Hochsee schon angekommen sein, aber am blauen Horizont war nichts zu sehen. Dauert es vielleicht noch einen Sonnenaufgang? Sie stieß sich lustlos von der Fensterbank ab und trottete aus dem Zimmer.

Auf dem Weg aus der Residenz ihrer Mutter ließ sie den Kopf enttäuscht hängen. Die Hände in den Taschen ihrer dunklen Hosen vergraben, ging sie durch den Hafen. Hin und wieder grüßte sie einer der Seeleute. Einmal sprach sie sogar ein Händler an, der ihr etwas Süßes schenken wollte, doch Tiana lehnte es freundlich mit den Worten ab: „Nein, danke, meine Mutter sagt, von Fremden soll ich nichts annehmen. Hab einen schönen Sonnenaufgang.“

Im Hafen von Malnesia konnte man zu jeder Zeit die wundersamsten Dinge sehen. Neben bunten Tüchern aus allen Provinzen gab es Leckereien aus den entlegensten Winkeln der Welt. Aus zahlreichen Tavernen torkelten Seeleute, Söldner und Händler mit Krügen in den Händen.

Es roch dort immer etwas seltsam, aber Tiana hatte sich daran gewöhnt. Sie wusste, dass es sich lohnte, die Händlerpiers zu passieren. Man gelangte nur über diesen Weg zu den Kais der Flotte. Dort, das war ihr bewusst, gab es die wahren Schätze zu bestaunen. Wichtig war nur, nicht aufzufallen. Die Besatzungen der Schiffe mochten es ganz und gar nicht, wenn sich Kinder unter ihnen aufhielten, wobei das weniger an den Männern und Frauen im Dienst ihrer Mutter lag, sondern mehr an ihrer Mutter selbst.

Kelvin, der alte Koch der Herrin der Hochsee, berichtete hin und wieder vom ungebremsten Temperament ihrer Mutter. Manchmal erlebte sie die Seefahrerin in solcher Wut, dass sie sich selbst vor ihr fürchtete, aber das passierte nur selten. Das Mädchen war in den meisten Fällen der Grund dafür. Es war durchaus schon vorgekommen, dass Tiana etwas ausfraß, was ihre Mutter von einer liebenden Heldin in ein Monster verwandelte, vor dem es zu flüchten galt.

Gedankenverloren ging sie die Hauptstraße entlang, die sie zu den Anlegestellen der Militärschiffe führen würde. An ihrem Ende mündete die Straße, die an den Kais vorbeiführte, in einer schmalen Holzbrücke. Sie spannte sich unter Palmen über eine kleine Bucht. Tiana war sich im Klaren darüber, dass diese zu einem Fluss gehörte, der auf einem Berg inmitten der Insel entsprang. Aus Erzählungen wusste das Mädchen, wie winzig das Rinnsal war, aus dem später ein großer Fluss wurde. In ihrem Gedächtnis kramte Tiana nach dem Namen des Flusses und erinnerte sich, dass man ihn den Traumschlucker nannte. An den Grund dafür konnte sie sich allerdings nicht erinnern.

Die Palmen spendeten auf der Brücke Schutz vor den Strahlen der Sonne. Das Mädchen versuchte so selbstsicher, wie es ihr möglich war, über die Brücke zu stolzieren. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man weniger belästigt wurde, wenn man so tat, als hätte man das Recht, dort zu sein, wo man war. Zu ihrer eigenen Überraschung funktionierte es erstaunlich oft.

Ihr kamen nur wenige Seeleute entgegen. Alle von ihnen schienen so beschäftigt mit sich selbst zu sein, dass sie die Gestalt nicht wahrnahmen, die die Brücke überquerte. Endlich, nach einer Ewigkeit, erreichte Tiana die Kais. Das geschäftige Treiben der Männer und Frauen, die mit den großen Schiffen zur See fuhren, erstreckte sich hier über den gesamten Militärhafen. Obwohl sie dieses Schauspiel schon oft gesehen hatte, war sie sich sicher, dass es niemals seinen Reiz verlieren würde. Eilig huschten die Leute zwischen den Anlegestellen hin und her.

Es wurden Schiffe mit eindrucksvollen Lastkränen entladen, während Männer schwere Kisten von den Stegen zu vereinbarten Lagerstellen brachten. Dabei machten sie, so fand zumindest Tiana, vor Anstrengung die ulkigsten Gesichtsausdrücke. Für diese harten Kerle war es normalerweise eine Sache der Ehre, keine Miene zu verziehen, doch auf der heimischen Insel bot sich ein anderes Bild. Sie wusste, dass die meisten dieser Seeleute bereits unzählige Reisen durch die Welt hinter sich hatten.

Viele der Seefahrer trugen die gleiche dunkle Haut wie Sunja zur Schau. Oft ging dies mit schwarzem oder braunem Haar einher. Ob das Haupthaar nach Art der Bewohner der fernen Provinz Daranien zu einem Pferdeschwanz gebunden, kurzgeschoren oder kahl war, der Kreativität war keine Grenze gesetzt. Am Körper trugen sie mal zerschlissene, mal edle Kleidung. Alles in allem war die Mannschaft ein bunt gemischter Haufen. Jeder war willkommen, solange er oder sie bereit war, für die Freiheit den Hass aller Provinzen auf sich zu nehmen.

Ihre Mutter erklärte es oft genug, so dass es sich mittlerweile in Tianas Gedächtnis eingebrannt hatte. In Gedanken wiederholte sie die Doktrin:

Freiheit ist das höchste Gut, das es zu verteidigen gilt. Sie zu schützen ist unsere höchste Pflicht. Ihr Hauslehrer, Herr Masív, behauptete oft, dass dieser Satz Unsinn sei. Er sagte stets: „Freiheit ist keine Pflicht, sie ist Bürde und Schatz zugleich.“

Zwar begriff sie selbst nicht ganz, was er damit meinte, aber es war sicherlich etwas Kluges. Konstant war der Mann bemüht, ihr das Wissen beizubringen, welches die Meisten nicht besaßen. Sie konnte schon sehr gut rechnen und lesen, worauf das Mädchen besonders stolz war. Mit dem Schreiben hatte sie noch ein paar Schwierigkeiten, aber das würde sicher noch besser werden. Schon früh begriff sie, welche Macht Geschichten haben konnten.

Plötzlich ging ein Raunen durch die geschäftige Menge. Neugierig schaute Tiana in die Richtung, aus welcher der Tumult kam. Einige der Anwesenden deuteten auf den Horizont, über dem sich in der Ferne die tiefblauen Segel eines Schiffes im Wind blähten. Oberhalb des Krähennestes schlackerte eine rote Flagge. Vor Freude machte ihr Herz einen Sprung. Nur die Herrin der Hochsee, das Schiff ihrer Mutter, besaß eine rote Flagge. Die anderen Schiffe der Flotte zeigten goldene Flaggen. Aufgeregt versuchte sie, sich durch die Menge zum Pier zu schmuggeln. In ihrer Nase lag der salzige Duft des Meeres, während der leichte Wind über ihr lockiges braunes Haar streifte.


Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie den Steg. Das Schiff war noch weit entfernt, doch konnte sie bereits einzelne Mitglieder der Mannschaft erkennen. An der Figur am Bug, eine gigantische Raubkatze, erkannte sie den Schiffsjungen Jonár. Grinsend winkte der Junge den sich an Land versammelnden Seeleuten zu, unter denen sich auch einige Leoranen befanden. Früher hatte sie sich vor dem hochgewachsenen Volk vom Festland oft gefürchtet, denn sie machten auf den ersten Blick einen ziemlich gruseligen Eindruck. Sie besaßen das Aussehen von äußerst starken, aufrecht gehenden Raubkatzen und wurden meistens wesentlich größer als Menschen, aber mittlerweile ängstigten sie die Leoranen nicht mehr. Tiana hatte gelernt, dass sie nicht besser oder schlechter waren als Menschen.

Inzwischen erspähte sie sogar den Ausguck Lem, ein hagerer Kerl, der oft entweder im Krähennest oder auf dem Weg dorthin zu sehen war.

Wellen barsten schäumend unter der Kraft des Schiffsrumpfes. Energisch pflügte die Herrin durch die schimmernde See. Leicht strich der Wind über den Kopf des jungen Mädchens, das nun am Ende des Steges auf das Eintreffen ihrer Mutter wartete. „Segel reffen und den Anker vorbereiten!“, schallte es von Bord der Herrin, als sie sich dem Pier näherte und es dauerte nicht lange, bis die Antwort der Mannschaft erklang: „Aye Aye, Käpt‘n!“ Jubelrufe und Gejohle wurden hinter der Tochter der Admiralin laut.


Schließlich legte die Herrin mit einem Platschen des massiven Ankers im Hafen an. Der Jubelchor steigerte sich dadurch nur noch. Ein Abstieg wurde herabgelassen, von dem sogleich Seeleute auf den Steg strömten und begannen, grölend ihre Freunde zu begrüßen. Freudestrahlende Männer und Frauen lagen sich in den Armen.

Einige küssten lang vermisste Gatten, bis letztlich eine harsche Stimme auf dem Pier erschallte: „Eure Admiralität ist heimgekehrt, ihr Trunkenbolde!“ Während sich die Menge nach der Stimme der ersten Offizierin Sunja Wirbelwind umdrehte, schritt Tianas Mutter den Abstieg herab. Unter neuerlichem Jubel trat sie auf den Steg. Grinsend verbeugte sich die Admiralin tief vor ihrem Gefolge, dann rief sie: „Was macht ihr noch hier? Die Tavernen warten darauf, gefüllt zu werden. Lasst uns feiern, Freunde!“

Als die Menge mit weiteren Rufen und Lobgesängen reagierte, schrie Sunja lachend: „Ihr habt die Admiralin gehört, bringt euer Gold zu den Schankmaiden!“ Eilig verschwanden die Seeleute in die Stadt.

Erst jetzt bemerkte die hochgewachsene Frau ihre Tochter auf der Anlegestelle. Mit einer hochgezogenen Augenbraue funkelte sie das Kind an. „Was treibst du hier, Tiana?“, wollte sie in ernstem Tonfall wissen.

„Ich weiß nicht, wie oft ich dir schon gesagt habe, dass du nicht zu den Kais kommen sollst. Du hast hier nichts zu suchen.“

Verdrossen betrachtete Tiana ihre Schuhe. Festen Schrittes ging die Mutter auf sie zu. Währenddessen schimpfte sie weiter mit ihr: „Es ist gefährlich an den Kais. Das hier ist kein Ort für Kinder.“ Tiana nickte betroffen, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Trotzdem freut es mich, dich zu sehen.“

Die Stimme ihrer Mutter war schlagartig weicher geworden.

„Jetzt gib deiner alten Mutter ‘ne Umarmung.“

Langsam hob das Mädchen den Kopf und sah das lächelnde Gesicht ihrer Mutter. Strahlend vor Freude schlang sie die Arme um die Admiralin, die diese Geste sofort erwiderte. In unermesslicher Freude versunken hob die Admiralin Tiana gerade hoch genug, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, nur um sich mit ihr auf der Stelle zu drehen. Vergraben in den langen braunen Haaren der Frau spürte sie einen Kuss auf ihrem Kopf. Während sich ein wohliges Gefühl in ihr ausbreitete, wurde Tiana bewusst, wie sehr sie ihre Mutter vermisst hatte.

Zurück