Der Flug der Eule

Prolog

Neues aus der Alten Welt

Sonnenstrahlen drangen durch das gläserne Kuppeldach des Hauptsaals im Dravenfelser Rätehaus. Der grelle Schein brachte den marmornen Boden schier zum Leuchten, während Almina ihn durch das große Portal betrat. Dabei fiel ihr Augenmerk auf die Mitte des Raumes, in die man mit schwarzem Bruchstein die Kreise der Magie mosaikförmig eingelassen hatte. Beim Anblick des Kunstwerkes huschte ein zaghaftes Lächeln über ihre Züge.

Für einen Moment blieb sie stehen, um das Wappen der Delegierten zu finden, die sie zu dieser Sitzung gerufen hatten. Immerhin war sie eingeladen worden, um dem Rat einen Bericht über die auf Katrien gestrandeten Menschen aus der Alten Welt abzuliefern.

Der kreisförmige Raum enthielt exakt vierzig Stühle, die den gewählten Vertreterinnen und ihr als Gästin im Saal Platz für die Versammlungen boten. Einer jeden der dreizehn Gilden standen dort drei Sitze für ihre Delegierten zu.

Ihr Augenmerk folgte dabei den Bannern, die hinter den Stuhlgruppen an eisernen Stangen befestigt waren. Jene Stoffbahnen zeigten stilisierte Darstellungen von alltäglichen Gegenständen. Unter den Symbolen waren Hämmer, Sicheln, Sensen, Bücher und viele mehr. Einzig über denen, welche gegenüber der Eingangspforte hinter einem imposanten Marmorschreibtisch standen, prangte ein anderes Hoheitszeichen.

Der Wappenschild zeigte alle im Raum verteilten Symbole. Sie bildeten die Umrandung eines türkisen, quadratischen Feldes, das diagonal von einer orangenen Linie durchzogen wurde. Unterhalb davon sah man ein Dreieck der gleichen Farbe mit einer darauf abgebildeten Schreibfeder. Den unteren Teil des Wappens umgaben zudem die Zeichen der Götter. Dort würde eine geneigte Gläubige: Das Feuer Ritors, Lirinias Welle, die Berge Eradras und Win’Daras Paradiesvogel erkennen. Glücklicherweise fand sie sich, trotz ihrer Position innerhalb des Ordens der Vahnen, nicht unter den von den Göttern betörten Seelen.

Kurz blieb der Blick der Drairi am geschwärzten Symbol der Herrin der Zeit hängen. Kaum merklich zog sie die Nase in hämischen Zufriedenheit kraus – war es doch der Verdienst des Ordens der Vahnen, dass man die Große Verräterin in Drachan nicht anbetete. Almina würde sie nicht im Reich dulden.


Auf dem zentralen Platz der Gilde des Volkes unter dem Banner des Reiches Drachan folgten drei gewaltige Einbuchtungen. In ihnen ruhten die letzten Draven, die man in der Alten Welt nur aus Legenden kannte.


Lange dauerte es nicht, bis die Vahnin den stilisierten Baum, welcher die Priesterinnen der Göttin des Lebens auszeichnete, entdeckte. Almina schritt gelassen auf die Sitzgelegenheiten zu, die sie für einige Zeit an den Hauptsaal fesseln würden.

Nachdem sie sich auf ihrem Platz niedergelassen hatte, betrachtete sie mit übereinandergeschlagenen Beinen die Vertreter der herrschenden Kaste Drachans. Nach und nach füllte sich so der Saal des Rätehauses und beherbergte immer mehr Drairi. Wie für ihr Volk normal besaßen die meisten von ihnen Draven-Merkmale, die sie von den Menschen der Alten Welt unterschieden. Manche [hatten] schuppige Haut, während andere Hörner auf der Stirn trugen. Einige, die vermutlich aus niederen Adelsfamilien stammten, verfügten sogar über einen Schwanz oder Flügel.


Es dauerte eine ganze Weile, bis alle den Saal betreten hatten und Stille einkehrte. Keiner wagte es, ein Wort zu sprechen, wenn sie nicht dazu aufgefordert wurde. In dieser ehrenvollen Halle praktizierten die Mitglieder der Gilden respektvolles Schweigen. Zumindest sobald man den eigenen Platz eingenommen hatte, galt die unausgesprochene Einigung auf das Gebot der Mäßigung. So wurde gewährleistet, dass die Sitzungen des Rates in einem sinnstiftenden Rahmen stattfinden konnten und nicht konstant von Zwischenrufen unterbrochen wurden.


Wie von Almina erwartet stellte sich die Sitzung, als ebenso ermüdend heraus wie viele Versammlungen dieser Art. Die Delegierten diskutierten und kommentierten die Aussagen ihrer politischen Gegnerinnen. Für die geladene Gästin wirkte das Schauspiel, wie hohles Dahergerede, denn echter, intellektueller Auseinandersetzung. Ihre Position in der Gesellschaft sorgte glücklicherweise dafür, dass ihre Anwesenheit im Rätehaus nur selten von Notwendigkeit war.

Wenn dies allerdings vorkam, dann luden sie für gewöhnlich die Priesterinnen Lirinias ein. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie eine der Götterdienerinnen, begierig darauf wartend ihr Thema anzubringen, mit ihrem Stuhl wippte. Ihr war dieses alberne Gehabe schon jetzt ein Dorn im Auge.

Kaum merklich augenrollen fokussierte Almina ihren Blick wieder auf den Vorsteher der Gilde des Volkes, welcher just zu einem neuen Tagesordnungspunkt überging. Es handelte sich beim Vorsitzenden um einen älteren Mann mit dunkler Haut, der direkt unter dem Banner in der Mitte saß. Ihm allein stand es zu einzelne Redner aufzurufen oder neue Themenbereiche zu eröffnen.

Wie zu erwarten hielten sich dabei die Draven bedeckt. Hin und wieder hob eine von ihnen den Kopf, doch mischten sie sich in Diskussionen der Gilden nicht ein. Die Vahnin wertete dies, als positives Zeichen, denn solange die Wesen keinen Einfluss auf das Tagesgeschehen nahmen, gab es wenig zu befürchten.


Es war bereits der halbe Tag ins Land geschritten, da erteilte der Vorsitzende, der Gilde der Priester Lirinias, das Rederecht. Ein wenig zu eilig erhob sich daraufhin die dienstälteste Priesterin von ihrem Stuhl und verbeugte sich tief.

»Habt Dank, geschätzter Vorsteher – Fürst Kelrik, wir haben, wie es bereits durch die Kundgabe der Tagesordnung proklamiert wurde, eine Gästin einberufen. Die achtbare Dienerin, der göttlichen Herrin Mutter, Herrin-Vahnin Almina wird dem Rat nun einen Bericht der Situation auf Katrien vortragen.«

Mit diesen Worten verneigte sich die Angehörige der Priestergilde erneut und nahm wieder Platz. Die Vahnin kannte ihre bedeutsame Rolle innerhalb des Ordens und damit auch der Gesellschaft der Drairi. Zwar war ihr dieses Gebaren schon seit jeher zuwider, doch wusste sie um seinen Zweck. Das war der Grund, aus dem sie sich nicht gegen die Lobgesänge wehrte. Sie dienten schließlich dazu ihren Rang zu zementieren. Vahnen galten, als direkter Arm der Göttin und standen damit selbst über den Hohepriesterinnen Lirinias.

Almina erhob sich dem Protokoll folgend. Nach einem angemessenen Zeitabstand schritt sie in die Mitte des Raumes. Wäre ihre Sonderstellung nicht genug gewesen, so unterschied sie sich von den anderen Drairi ebenfalls durch ihr Äußeres.

Am Körper trug sie dunkelrote Lederkleidung, die zwar im Aussehen einer Rüstung ähnelte, doch wenig Schutz bot – nicht, dass sie diesen benötigt hätte.

Zwischen den kunstvollen Lederarbeiten konnte man an ihrem Gürtel einen prächtigen Einhänder erkennen. Ihm mangelte es zwar an Schmuck und Tand, doch machte das die Waffe nicht weniger eindrucksvoll, denn wo hier Verzierungen fehlten, besaß das Schwert eine schlichte Eleganz. Daneben erkannte das geübte Auge Kletterhaken, ein Seil und weitere Utensilien, welche in der Wildnis von Nutzen waren.

Hinter ihr wogte ihr schuppiger, schwarzer Schwanz, denn selbst nach unzähligen Teilnahmen an solchen Veranstaltungen spannten sie Almina stets an. Ihre Hände, die mehr Klauen als Fingern ähnelten, hatte sie respektvoll hinter dem Rücken verschränkt und die mannshohen, ledrigen Schwingen an den Körper angelegt. Natürlich hatte sie nicht darauf verzichtet die Hörner, die oberhalb ihrer Stirn aus dem Haar herausstachen, mit Eisenkettchen zu schmücken. Bei einer solchen Angelegenheit galt es einen guten Eindruck zu machen.

Die Haare band sie zu einem festen Pferdeschwanz, so wie es zurzeit Mode war. Woher diese kam, konnte keiner sagen, aber sie hatte sich in den letzten Monaten stur in die Gesellschaft eingeschlichen. Manch ein Reisender behauptete, dass diese Art das Haar zu tragen aus der Alten Welt, käme, doch selbst wenn es zustimmte, würde niemand dies zugeben. Das stolze Volk Drachans - und insbesondere die Bewohner Dravenfelses – hielten sich für deutlich besser, als die Einwohner der Kontinente im Norden.

Ihr filigranes Gesicht wurde diagonal von einer tiefen Narbe gänzlich durchzogen. Allerdings konnte man ihr Antlitz nur teilweise sehen, denn unterhalb der purpurn glimmenden Augen verdeckte ein ockerfarbener Tuchschal die andere Hälfte ihres Gesichtes. Eben diesen zog sie jetzt so weit herunter, dass man ihr gesamtes Antlitz sah. Mit ernster Stimme berichtete sie: »Vor sechs Tagen ist eine Gruppe von Menschen am südlichen Riff Katriens gestrandet. Über den Grund ihres Unglücks kann ich nur spekulieren, doch liegt es nahe, dass sie in einem Sturm an die Küste des Eilandes gespült wurden. Dies würde auch den Zustand ihres Schiffes erklären:

Der Dreimaster mit dem sie reisten, wurde vom Korallenriff in zwei Teile gespalten. Offenbar handelte es sich bei jenem Segler, um ein militärisches Schiff. Diese Schlussfolgerung ziehe ich aus den im Wrack ersichtlichen Kanonen, welche den Berichten der Handelsagentinnen widersprechen. Anscheinend hat die Alte Welt mittlerweile auch das Geheimnis des Schwarzpulvers entschlüsselt.

Die Besatzung selbst verhält sich für die Situation in der sie sind navollziehbar. Ihre höchste Priorität ist offenbar die Nahrungs- und Wassersuche, weswegen sie bereits Expeditionen in den Dschungel gestartet haben. Daraus schließt sich mir, dass es sich nicht um eine verdeckte Militäroperation handelt. Meine Vermutung ist es, dass wir zeugen einer der bisher erfolglosen Aufklärungsmissionen sind, die die irrige Annahme hatten uns finden zu können.«

Für einen Moment ließ sie die Ironie dieser Aussage wirken und holte tief Luft, bevor sie fortfuhr: »Ich muss an dieser Stelle deutlich betonen, dass meiner Einschätzung nach von den Menschen keine Gefahr für das Reich ausgeht. Es handelt sich um eine Schiffsbesatzung von nur noch schätzungsweise hundertzweiundsechzig Personen. Sie sind schlecht ausgerüstet und haben es unter großer Mühen geschafft ihr Überleben zu sichern.

Wie dem Rat bewusst sein muss hätte diese Anzahl an Kriegern keine realistische Chance gegen die Schlagkraft des Ordens der Vahnen und der Gilde des Schutzes. Das Reich ist sicher – Zumal ihre Zahl aufgrund der zwei Dutzend Verletzten vermutlich noch sinken wird.«

Erneut pausierte Almina ihren Bericht für einen Augenblick, um Luft zu holen. Dabei ließ sie den Blick zu den Draven huschen, die im Gegensatz zu den meisten Themen des heutigen Tages äußerst aufmerksam zuhörten.

»Selbst wenn eine Gefahr bestünde, dass sie beispielsweise eine Krankheit der Alten Welt einschleppen, so wären«, fuhr die Vahnin mit einer ausladenden Geste fort, »sowohl die Flotte als auch das stehende Heer innerhalb von wenigen Tagen in Katrien, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Zur Vollständigkeit ist es mir ein Anliegen zu berichten, dass die Besatzung des gestrandeten Schiffes den aufgegebenen Tempel Ritors im Inselinneren noch nicht entdeckt hat – dies ist allerdings eine Frage der Zeit. Das ist alles, was ich berichten kann.«

»Im Namen des Gildenrates des Reiches Drachan, danke ich Euch, Herrin-Vahnin für Euren Bericht. Bitte nehmt erneut Platz.«

Almina bedeckte wieder die Hälfte ihres Gesichtes mit dem Tuchschal, nickte zustimmend und schritt zurück zu den Vertretern der Gilde, wo sie sich auf ihrem Stuhl niederließ.

Jetzt wandte sich der Vorsteher des Rates an alle Anwesenden: »Der Sachverhalt des Umgangs zu den in Katrien gestrandeten Menschen steht nur zur Debatte offen.« Es war ein Delegierter der Gilde der Hilfe, welcher sich zuerst zu Wort meldete: »Wir sind einstimmig der Meinung, dass das Volk der Drairi eine historische Verantwortung trägt den Schwachen und Hilfesuchenden zur Seite zu stehen. Wie sollten wir sonst besser sein, als jene, die uns aus der Alten Welt vertrieben haben?« »Die Gilde des Wissens unterstützt diesen Vorschlag. Zudem sollte der gesamte Rat folgendes bedenken: In keinem akademischen Feld herrscht eine solch ungenaue Faktenlage, wie beim Wissen über die Kontinente Winor’Wahna und Rinoran. Es biete sich, die potentiell einmalige Chance gefahrlos an Informationen zu gelangen und nicht nur auf die wagen Berichte der Handelagentinnen angewiesen zu sein.

Almina konnte sich bereits denken, dass dem zweiten Sprecher wesentlich weniger am leiblichen Wohl der Menschen gelegen war. Ihn dürstete es nach kaltem Wissen und nicht Nächstenliebe. Bevor die Vahnin weiter darauf herumdenken konnte, erhob sich eine erboste Kauffrau von ihrem Stuhl.

»Ich weise jegliche Beschuldigungen der Ratskollegen strikt zurück. In den Berichten unserer Agentinnen liegt keinerlei Ungenauigkeit. Es ist allein dem Mut unserer Mitglieder zu verdanken, dass Handelbeziehungen zu den Kal’Iri bestehen. Eine Reise in die Alte Welt ist mit großen Gefahren für Leib und Leben verbunden, die meiner Einschätzung nach keine der Anwesenden auf sich nehmen würde. Den tapferen Kaufleuten vorzuwerfen, dass die Verstoßnen keine brauchbaren Informationen liefern ist eine infarme Beleidigung! Solcherlei werde ich nicht dulden!«

Auch wenn es ihr zuwider war, der Händlerin recht zugeben, so musste sich die Vahnin ihr zustimmen. Es war sicher keine simple Aufgabe, für ein drachansches Schiff zu einem der Kontinente im Norden zu reisen. Selbst sie hatte erst einmal mit einer Handelsagentin über ihren Auftrag gesprochen. Allein durch diese Unterhaltung hatte sie erstaunliche Erkenntnisse gewonnen, die sie vermutlich auf anderem Weg nicht erhalten hätte.

 Zur Antwort auf die Anschuldigungen der Kauffrau winkte der Vorredner lässig ab. Die Gilde habe niemanden beschuldigt und ausschließlich Tatsachen dargelegt. Die werte Ratskollegin könne das fehlende Wissen über jene vergessenen Orte im Norden nicht von der Hand weisen.

In diesem hitzigen Moment hob sich ruckartig der Kopf einer der gewaltigen Echsen. Schwarze Schuppen bedeckten ihren Körper, bis auf einen breiten, schlohweißen Streifen am Haupt.

Im eindrucksvollen Schädel des Wesens glommen blau leuchtende Augen und nicht wenige Hörner trug dsie am Hinterkopf zur Schau. Ihr restlicher Leib ruhte weiterhin entspannt auf dem Boden des Saals. An der Position, an welcher man normalerweise die Vorderbeine vermutete, verfügte, sie über gigantische Schwingen.

 Finnja, der Frostatem des Südwindes, ließ einen mahnenden Blick durch Menge wandern. Obgleich der unausgesprochenen Schelte, welche die Vahnin nicht selbst traf, musste sie sich eingestehen, dass sie ein Schauer durchfuhr. Dem Anschein nach ging es den Delegierten der Gilden nicht anders. »Im Namen der Herrin Mutter ordne ich an, solch närrische Zänkereien zu unterlassen«, wies Finnja die Drairi mit melodischer Stimme zurecht. Ihre männlichen Mitechsen mischten sich nicht ein, was für Almina ein sicheres Zeichen war, dass die Gilden den Bogen zumindest bisher nicht überspannt hatten. Es war selten, dass sich die Draven in die Geschäfte des Reiches einmischten – waren sie doch die von den Göttern gesandten Wächter Drachans. Dementsprechend war es von Relevanz, wenn sie sich zu Wort meldeten.

»Ihr habt den Frostatem des Südwindes vernommen, ich verordne Ruhe und ehrenwertes Verhalten im Ratssaal!«

Auf den Ausruf des Vorstehers hin, war es nun an einem General des Heeres, einen Vorschlag einzubringen, was der Vahnin einen argwöhnischen Blick abverlangte »Es gibt nur eine richtige Antwort auf Menschen innerhalb des drachanschen Hoheitsgebietes. Die einzige Sprache, welche dieses Pack versteht, ist: Gewalt. Wir müssen sie ausmerzen, um das Reich vor Vernichtung zu bewahren. Werte Ratskollegen ihr habt die Herrin-Vahnin gehört«, erklärte er, während der Mann mit seiner Rechten beiläufig in Alminas Richtung deutete.

»In der Alten Welt ist offenbar das schwarze Pulver bekannt und damit sind sie unseren Schiffen und Truppen ebenbürtig. Hundertsechzig Kriegerinnen sind keine Gefahr für tausende unter Waffen stehende Soldatinnen in Walindrien und Waskavar – von den Flotten und den Resten der Violetten Armada abgesehen.

Wir bräuchten kaum einen Tag, sie auszurotten und Katrien von ihrer Anwesenheit zu befreien, doch was – werte Kolleginnen und Kollegen – wenn sie ihre Heimat erreichen sollten? Was passiert, wenn eine Schreckensflotte auf einmal vor Tjorigsheim oder Ellinhafen ankert. Dann möchte ich die geschätzte Herrin-Vahnin sehen, die uns und den getöteten erklärt, dass die Menschen keine Gefahr sind.

Ich stimme dem gelehrten Vorredner in jedem Fall zu. Wir wissen zu wenig, über die Alte Welt, um ihre Schlagkraft einzuschätzen. Aus welchem Grund, frage ich, sollten wir das Risiko eingehen?! Wieso sollte ein wenig Erkenntnis über für uns irrelevante Orte mehr Gewicht haben, als das Wohl unserer Kinder?! Aus diesem Grund fordere ich offen die Vernichtung jener Invasionstruppe zur Wahrung des Friedens. Wer, wenn nicht die Gilde des Schutzes könnte es besser wissen?«

Der Groll in Almina wuchs mit jedem Wort des Mannes, doch zwang sie sich dazu, sich nichts anmerken zu lassen. Dabei biss sie sich auf die Unterlippe, um der inhärenten Wut ein Ventil zu geben. Sie konnte es sich nicht erlauben, im Rat auffällig zu werden, wenn sie die Macht, die sie in der Gesellschaft besaß, zu behalten gedachte. Gleichwohl erkannte sie in manchen Gesichtern, den gleichen Zorn, der in ihr nach Freiheit verlangte.

Kaum hatte sich der Sprecher unter einigem Applaus aus anderen Gruppierungen wieder niedergelassen, da nahm jener Soldat zu seiner Linken seinen Platz ein und widersprach: »Eher sehe ich Potential in einer Gefangennahme der Invasoren. Einerseits wäre die Gefahr für das Reich gebannt und zum zweiten bestünde die Möglichkeit sie ausgiebig zu studieren und die heute bereits geforderten Informationen zu erlangen. Somit wären alle Parteien glücklich.« Auf die harschen Worte des Militär-Delegierten folgte erneut Beifall und vereinzelter, geraunter Zuspruch. Doch nicht jeder war einverstanden mit diesem Vorschlag. So sprang eine Vertreterin der Gilde der Hilfe förmlich von ihrem Stuhl auf.

»Von allen kann nun wirklich keine Rede sein, werter Kollege, Melinkar! Ich muss mich, des Weiteren, doch sehr über Eure Ausdrucksweise und die Eures Gildenkompangions wundern. Seit wann schädigt das Militär den eigenen Ruf mit solch bizarren Taktiken? Ist es so schlecht um das Heer bestellt, dass wir eine Gruppe aus Verhundernden fürchten müssen?! Vielleicht ist die Sorge wahrlich begründet, wenn sich die tapferen Kriegerinnen unter Waffen nun schon vor Schiffsmädchen ängstigen!«

»Die Armee ist so mächtig, wie nie zuvor! Jede Bedrohung wird mit eiserner Vehements niedergeschlagen!«

»Warum zittert ihr dann vor hundersechzig Seefahrerinnen?!«

In diesem Moment erschallte ein Knall, den der Hall noch verstärkte, durch Saal. Augenblicklich waren alle Anwesenden mit Stille geschlagen, während ihre Aufmerksamkeit zum Vorsitzenden der Versammlung wanderte. Der ältere Mann in den orange-türkisen Roben der Gilde des Volkes war aufgesprungen und hatte mit einem Hammer eine im Tisch eingelassene Metallplatte geschlagen. Sein Brustkorb hob sich im gleichen Maß vor Erregung, wie, der der Streithähne, die sich vor wenigen Augenblicken angekeift hatten. Mit strengem Blick sah er sich im Raum um, ehe er das drückende Schweigen brach: »Nicht nur Euch wundert das Gebaren der Delegierten der Gilde des Schutzes, denn mir ist ebenfalls unklar, warum manch ein Ratsmitglied ins Kindesalter zurückverfällt. Mir ist bewusst, dass die Alte Welt für den ein oder anderen eine Reizthematik darstellt, doch erwarte ich einen respektvollen Umgang miteinander oder ich werde dieses närrische Verhalten von der Dravengarde unterbinden lassen.« Obgleich er in einer gedämpften Lautstärke sprach, rollten die Worte einem Donnergrollen gleich durch den Saal. Es wirkte so es, als hätte die Mutter ihre Kinder ausgeschimpft.

Almina, die bereits den Blick wieder abgewandt hatte, sah, wie sich die vor kurzem verfeindeten Ratsmitglieder kleinlaut hinsetzten. Erleichtert - über den Umstand, dass die Situation nicht weiter eskaliert war - atmete die Vahnin auf.

Es war ein Mitglied der Gilde des Wortes, die die Magierinnen des Reiches unter einem Banner vereinte, welcher die neuerliche Stille zuerst durchbrach: »Ich schlage vor den Weg weiterzugehen, die wir alle schon so zahlreiche Jahrhunderte lang beschreiten. Damals, als die Welt jungen Alters war und der erste Kataklysmus über sie hereinbrach, haben sich unsere Ahnen für die Abgeschiedenheit entschlossen.

Wir sollten heute in gleicher Weise abstimmen, denn die Alte Welt hat uns nichts zu bieten. Das Obsidian der Verstoßenen kann problemlos ins Syragya oder auf den Kalresken geschürft werden. Mein Vorschlag ist es den Rat nicht weiter mit diesem Thema zu blockieren. Die Menschen waren nie ein Problem und werden es auch in der Zukunft nicht sein.« Kaum hatte er sich gesetzt, da stand bereits ein Priester Ritors auf, um darauf zu erwidern.

»Wir, als Vertreter des lodernden Vaters plädieren ebenfalls diese Verräter an den sterblichen Völkern der Welt gefangen zu nehmen! Es ist an der Zeit sich für die Schandtaten, die an den Müttern unserer Ahnen begangen wurden, zu rächen! Unter Drangsal sollen sie lernen, was es bedeutet Erbschulden nicht zu begleichen! Wir werden diese Pestilenz aus dem heilligen Reich unserer Götter vertreiben!«

»Ich muss dem Rat ehrlich gestehen, dass mich die am heutigen Tage geäußerten Aussagen nicht nur erstaunen, sondern in ehrliches Unverständnis werfen. Ich muss dem Vertreter aus der Gilde des Wissens zustimmen, was mich zu einer Bitte an den gesamten Rat bringt: Bedenken Sie alle die Optionen, welche sich mit einer Erforschung der auf Katrien gestrandeten Menschen bieten. Wie soll es dem Reich möglich sein irgendwann zu einem normalen Kontakt mit den verlorenen Kontinenten zurückkehren? Wir sprechen mit sehr wenigen Aussnahmen nicht einmal ihre Sprache! Uns bietet sich eine einmalige Chance zur Versöhnung.« 

Sofort brandeten zahlreiche erboste Rufe aus den unterschiedlichsten Gilden auf, die der Magierin, die sich mit leichter Schamesröte auf den Wangen niederließ, entgegenbrandeten.

»Welche Verständigung hat man unseren Ahnen in den Mienen der Leoranen zugesprochen?! Davongejagt haben sie uns! Wie Vieh wurden die Mütter der alten Tage gehalten und wir sollen den Monstern, die solche Taten vollbrachten die Hand reichen?!«

»Ich kann nicht glauben, dass ein Mitglied dieses Rates solch frevelhafte Vorschläge nur zu denken wagt! Jenes Rattenpack verdient ausschließlich Härte, die wir ihnen geben werden!«

»Elende Veräterin!«

»Ich kann Eure Sorge verstehen, doch ist es eine nie dagewesene Möglichkeit unseren Schwerstern...«

Weiter kam die Magierin, deren Vorschlag Stein des Anstoßes gewesen war, nicht, denn der Soldat aus der Gilde des Schutzes unterbrach sie schreiend: »Das passt zu den Sprücheklopfern, solche Reden von Versöhnung und Freundschaft zu schwingen! Pah - ich spucke auf Eure Chance! Ihr Kartentrickser werdet uns nicht von unserer rechtmäßigen Rache abbringen!« Getragen von den Worten des Ratsmitgliedes brandete lautstarkes, zustimmendes Gejohle auf und kündete endgültig vom heillosen Streit, in den die Gilden verfallen waren. In der tobenden Auseinandersetzung versunken konnte nicht einmal das mittlerweile verzweifelte Hämmern des Ratsvorstehers sie aus der Rage befreien.

Almina vergrub ihr Gesicht – beschämt über das närrische Verhalten der Delegierten - in den klauenartigen Händen und seufzte hörbar. Zu gern würde sie dieses Gebaren unterbinden, doch stand es ihr als Vahnin nicht zu in den Lauf einer solchen Versammlung einzugreifen, obgleich sie nicht zu befürchten hätte.

Glücklicherweise blieb es ihr erspart sich einzumischen, denn die gewaltige Echse zu Finnjas Rechten hob trotz des tobenden Streits der Delegierten langsam den Kopf. Seine scharlachroten Schuppen wurden zu einem großen Teil von einer metallenen Rüstung bedeckt. Im dunkelblau schimmernden Helm sah man die bedrohlich funkelnden Augen des Draven. Im Gegensatz dazu zeugte der ungeschützte Unterkiefer von den zahlreichen Kämpfen, an denen er in seinem langen Leben teilgenommen hatte. So bedeckte zusätzliche Panzerung - mit Ausnahme der Flügel und der stachelbewehrten Keule am Ende seines Schwanzes - den größten Teil des Wesens.

Almina kannte die Mythen und Legenden über Aik, die Rache des Ostwindes. Sie wusste, wie wahr die meisten von ihnen waren, was sie zusammenzucken ließ, als der Drave grollend seine Stimme erhob: »Elende seid ihr! In den Augen der älteste Abkömmlinge der Götter, deren Vertreter wir sind, hab ihr kein Recht auf den Titel der Zweitgeborenen. Es ist eine Anmaßung, dass solche niederen Kreaturen, wie ihr es seid unseren Schutz genießen. Die Eule würde euch zurechtweisen, ob dieser kindischen Narretei!« Er schloss seinen Tadel mit einem dröhnenden Brüllen, dass die Wutausbrüche der Gilden mit einem Mal unterband. 

Bei seinen Worten huschte ein wütender Ausdruck über die Züge der Vahnin und für einen Augenblick sehnte sie sich danach, aufzuspringen und der blasierten Echse zu zeigen, was es bedeutete den Willen Magragars zu interpretieren. Es kostete Almina, Selbstbeherrschung nicht zu intervenieren, denn solcher Frevel war nicht in ihrem Sinne.

In diesem Augenblick, da die Vahnin mit sich selbst rang, rettete der Frostatem des Südwindes sie vor dem Verlust ihrer Prinzipien. Finnja bäumte sich vor ihrem Gefährten auf, um diesen zur Räson zu rufen.

»Es ist auch uns nicht vergönnt mit den Stimmen der Götter zu sprechen – gerade Ihr solltet dies wissen, Aik.«

»Sieh dir an, wie die Kinder zanken – Streiten über Unwichtigkeiten, als hänge ihr Leben daran! Sie sind unsere Zeit nicht wert!«

»Nichtsdestotrotz habt ihr kein Recht für die Eule, den Raben oder das Pantheon zu sprechen. Beruhigt Euch, Aik, um Eurer selbst Willen.

Während die beiden Draven stritten, richtete die dritte Echsen, ihren Blick auf die Vahnin, die dies bemerkte. Reynir, der Bruder des Westwindes, musterte einen Moment lang die Dienerin der Sterblichen. Sein von einer über den Schuppen liegenden Schädelplatte bedeckter Kopf, wirkte im Schein der Sonne umso bedrohlicher. Der weiße Knochen seiner zahlreichen Hörner reflektierte dabei die Strahlen in majestätischer Weise. Ebenso, wie Aik stand Reynir auf vier kräftigen Beinen. Seine krächzende Stimme klang im Ratssaal, während er sich andächtig aufrichtete: »Herrin-Vahnin, sagt noch einmal, wie ihr die Gefahrenlage einschätzt. Bitte erleuchtet uns mit Eurer Weisheit.«

Die Dienerin der Sterblichen atmete tief ein, ehe sie sich von ihrem Stuhl erhob und erneut in die Mitte des Saals schritt. Sie wusste, dass ihre Zeit gekommen war und das Warten sich gelohnt hatte. Dort angekommen verneigte sie sich vor jenem Draven und schüttelte anschließend argwöhnisch den Kopf.

»Von Katrien geht keine Gefahr aus, wie ich dem Rat bereits berichtete, ehrbarer Bruder des Westwindes. Es wird einiges an Glück brauchen, damit sie überhaupt überleben. Allerdings habe ich, nachdem ich Zeugin dieser Sitzung wurde, dem Rat einen Vorschlag zu unterbreiten: Entsenden Sie mich, um ein Auge auf die Menschen zu haben, bis eine endgültige Entscheidung getroffen wurde. So wäre es den Gilden möglich sich in Frieden zu beraten, ohne fürchten zu müssen, dass die Bewohner der Alten Welt es in ihre Heimat zurückschaffen könnten. Als Dienerin der Sterblichen verfüge ich über manches Mittel, um dies zu verhindern.«

Mit einem Nicken bedankte Reynir sich bei der Frau, ehe er sich an den gesamten Rat wandte: »Ihr habt den Vorschlag der Herrin-Vahnin gehört, nun entscheidet...«

Kaum hatte der Drave die Worte ausgesprochen, da entbrach erneut ein wortgewaltiges Gefecht zwischen den Gilden. Stühle vielen unter den energisch aufspringenden Ratsmitgliedern um, Haare wurden gerauft und zornige Reden geschwungen. Der wilde Tumult erfasste jeden im Raum, denn keiner außer den Echsen und der Vahnin ließ sich nicht vom hitzigen Diskurs mitreißen.

Jäh erklang ein monströses Brüllen, dem, wie so oft an diesem Tag, Totenstille folgte. Finnja stand aufrecht mit halb ausgebreiteten Flügeln einige Schritt in der Halle. Den Kopf zum Kuppeldach gerichtet schüttelte sie sich vor Abscheu.

Einen Moment lang ließ sie die Stille den Saal kontrollieren, bevor sie die Gilden belehrte: »Weise mögt ihr wirken, doch seid ihr Kinder. Zu unbeholfen, um einig zu stehen, fallt ihr euch bei der erst besten Gelegenheit, gegenseitig in den Rücken. Es widert mich an euch so zu sehen. Ihr schreit Zeter und Mordio gegen die eigenen Schwesterm, aber zu einer Entscheidung kommt ihr nicht. Ruft mich, wenn ihr erwachsen werdet.«

Nach einem grimmigen Blick, der jeden im Raum traf, stampfte sie aus dem großen Eingangsportal, dass eilig von der Dravengarde geöffnet wurde, in die pralle Sonne und verschwand am Himmel.


  • Bildtitel

    Untertitel hier einfügen
    Button